Theater-Debatte
Neoliberales Event-Angebot?

Peter Laudenbach

Berlins Kulturstaatssekretär Tim Renner will die Berliner Volksbühne "neu denken" und macht sich dabei viele Feinde.

So turbulent, wie es dank des Kulturstaatssekretärs Tim Renner derzeit in der Berliner Kulturpolitik zugeht, wird sogar der Besuch im "Ausschuss für Kulturelle Angelegenheiten" zum unterhaltsamen Erlebnis. Im schmucklosen Sitzungssaal 376 des Abgeordnetenhauses nutzt Renner eine Anfrage der sachkundigen Grünen-Politikerin Sabine Bangert zur Zukunft der Volksbühne für eine emphatische Liebeserklärung. Schon in den Neunzigerjahren sei er dauernd von Hamburg nach Berlin gefahren, um an Frank Castorfs Theater die tollen Inszenierungen von Christoph Marthaler, Christoph Schlingensief und René Pollesch zu sehen. Offenbar war Tim Renner schon damals ein echter Theater-Visionär und seiner Zeit weit voraus: In den Neunzigerjahren arbeitete René Pollesch noch gar nicht an der Volksbühne.

Seit bekannt wurde, dass Tim Renner in zwei Jahren Chris Dercon, den Direktor der Londoner Tate Modern Gallery, zum Nachfolger von Frank Castorf an der Volksbühne machen will (SZ vom 31. März), steht der immer noch etwas metierfremde Kulturstaatssekretär unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Denn akuter Veränderungsbedarf ist an der Volksbühne momentan nicht erkennbar, Castorf wäre gerne länger geblieben. Zwar ist er in der Tat schon sehr lange an der Volksbühne, seit 23 Jahren. Aber Castorf ist eine Ausnahmefigur, nicht irgendein Intendant. Einer vergleichbar singulären Künstlerin wie Pina Bausch hätte auch kein zurechnungsfähiger Kulturpolitiker nach zwanzig Jahren gesagt, liebe Pina, wir müssen dein Theater neu denken, du kannst gehen. Das mag Geschmackssache sein. Keine Geschmackssache ist, dass man sich kaum vorstellen kann, was Dercon, den Museumsmann mit einem Faible für Performing Arts, qualifiziert, eines der größten und wichtigsten deutschen Theater zu leiten. Sinnvoll erscheint diese Besetzung nur, wenn die Volksbühne kein Theater bleiben soll.

Dass man nicht genau weiß, was Tim Renner unter Ensemble versteht, macht die Sache brisant.

Nicht immer reagiert Renner auf seine Kritiker souverän. Die wütenden Attacken des stets erregungsbereiten BE-Intendanten Claus Peymann ("Niete", "Fehlbesetzung", "Lebenszwerg", "Nichtwisser") beantwortete er auf ähnlich anspruchsvollem Niveau. Der BE-Chef sei nur ein "alter einsamer Mann", ließ Renner in einem Radio-Interview wissen. Das ist für einen Kulturstaatssekretär zumindest eine interessante Wortwahl. Im Kulturausschuss beantwortet er die Frage der Grünen-Politikerin Sabine Bangert, ob die Volksbühne ein Repertoire- und Ensemble-Theater bleibe oder von Dercon zu einer entkernten Blackbox für Gastspiel und allerlei Events gemacht werden soll, mit dem Nebelwerfer. Natürlich bleibe die neue Volksbühne ein Ensemble-Theater, versichert Renner. Nur weiß man nicht genau, was er unter einem Ensemble versteht. Das macht den Fall über die Volksbühne hinaus brisant.

Ein experimentierfreudiges Sprechtheater zu einem Ort für alles Mögliche zu machen und ein Repertoire-Theater durch das neoliberale Modell eines von einem Kurator mit Einzelprojekten bespielten Angebots zu ersetzen, käme einem Paradigmenwechsel im deutschen Theaterbetrieb gleich. Das Modell dafür hat Matthias Lilienthal, der designierte Intendant der Münchner Kammerspiele, in den Nullerjahren mit dem Berliner HAU (Hebbel am Ufer) geschaffen. Lilienthal machte das HAU höchst erfolgreich zu einem nach außen hippen, in seinen inneren Strukturen und deregulierten Arbeitsverhältnissen konsequent neoliberalen Theater mit angeschlossener Agentur für diverse Stadt-Exkursionen. Das war aufregend, aber um den Preis einer kurzatmigen Event-Kultur. In dieser nicht besonders fairen Struktur ist der Kurator weit mächtiger als die meisten Künstler, die er für einzelne Projekte engagiert und bei Nichtgefallen oder ausbleibendem Erfolg problemlos und schnell wieder fallen lassen kann.

Dass das HAU trotzdem lange halbwegs gut funktioniert hat, lag unter anderem am künstlerischen Wagemut und der menschlichen Integrität des Intendanten. Und daran, dass die prekären Arbeitsverhältnisse in der Freien Szene ohnehin üblich sind. Der entscheidende Unterschied zur Volksbühne besteht darin, dass für die HAU-Gründung kein gut funktionierender Repertoirebetrieb mit großer Technikmannschaft und tarifvertraglich abgesicherten Mitarbeitern zugunsten eines flexiblen Kuratoren-Modells umstrukturiert werden musste. Genau das aber könnte der Volksbühne drohen.

Kein Wunder, dass auch andere Intendanten, nicht nur Claus Peymann, die Berliner Entwicklung mit ausgesprochenem Misstrauen verfolgen.

Dieses Misstrauen hat Gründe. Aus wohlinformierten Kreisen ist zu hören, dass Chris Dercon für die Volksbühne unter anderem um den Konzept-Choreografen Boris Charmatz wirbt, der auch an der Tate Modern ein gern gesehener Gast ist. Auch die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, die legendäre Leiterin der Compagnie Rosas, würde Dercon wohl gerne für eine Zusammenarbeit an der Volksbühne gewinnen. Allerdings kann man Rosas auch ohne eine umfunktionierte Volksbühne seit vielen Jahren regelmäßig beim "Tanz im August" in Berlin sehen. Boris Charmatz war beim Performing Arts-Festival "Foreign Affairs" der Berliner Festspiele erst im vergangenen Jahr mit einer Werkschau vertreten. Thomas Oberender, der einfallsreiche Intendant der Berliner Festspiele, ist von Kunstformen an den Schnittstellen zwischen Theater, Musik und bildender Kunst fasziniert und öffnet sein Haus entschieden in diese Richtung. Und das unterfinanzierte HAU ist ohnehin eine der wichtigsten Bühnen für Performing Arts, Tanz und alle hybriden Theaterformen. Es fehlt in Berlin wahrlich nicht an Strukturen und Aufführungsorten für das weite Reich der Künste zwischen Performance, bildender Kunst, Tanz, Medienkunst und Theater. Will man mehr davon, wäre es sinnvoller, die vorhandenen Strukturen besser auszustatten, als mit einem zusätzlichen Veranstalter die Konkurrenz um Künstler, Fördergelder und ein begrenztes Publikum zu erhöhen.

Kulturstaatsministerin Grütters warnt vor "Doppelstrukturen" an der Berliner Volksbühne

Da die Berliner Festspiele vom Bund betrieben und aus dem Etat des Staatsministeriums für Kultur und Medien finanziert werden, steuert Tim Renner mit seinen Ideen für die Volksbühne möglicherweise auf einen gefährlichen Konflikt mit Staatsministerin Grütters zu. Hagen Philipp Wolf, der Sprecher der Ministerin, warnte Berlin ziemlich unmissverständlich davor, an der Volksbühne "Doppelstrukturen" zu schaffen: "Außerhalb von Berlin könnte dann die berechtigte Frage entstehen, ob das hohe Engagement des Bundes noch vertretbar ist."

Das ist eine Drohung, die es in sich hat. Berlin ist von den Bundeszuwendungen für die Kultur abhängig. Rund 500 Millionen Euro, 42 Prozent seines Etats, lässt sich das Staatsministerium für Kultur die Berliner Kulturlandschaft kosten. Derzeit verhandeln Bund und Land Berlin den neuen, ab 2017 gültigen Hauptstadtkulturvertrag, der die Zukunft dieses Bundesengagements regelt. In so einer Situation ist es nicht unbedingt geschickt, wenn Berlins Kulturstaatssekretär mit eigenwilligen Personalentscheidungen das gute Verhältnis zum wichtigsten Geldgeber belastet. Statt mit Vorsicht und Diplomatie auf die Warnung aus dem Ministerium zu reagieren, ging Renner zum Gegenangriff über. In einem Radiointerview warf er dem Ministeriumssprecher schnoddrig vor, sich in Dinge einzumischen, die ihn nichts angingen - schließlich sei die Volksbühne eine Bühne des Landes Berlin. Man kann sich die indignierten Gesichter im Ministerium angesichts solcher Berliner Breitbeinigkeiten lebhaft vorstellen. Die Hoffnung der Ministerin, Berlin möge "anerkennen, dass Hauptstadt-Sein auch eine dienende Funktion ist und sich nicht nur in der Geste das Handaufhaltens erschöpfen sollte", scheint beim Politik-Neuling Renner noch nicht so recht angekommen zu sein.

Ende April wissen wir mehr. Dann wird, so ist zu hören, Tim Renner den Nachfolger Frank Castorfs und dessen Pläne offiziell vorstellen.